Ursachen der Leiden

In der Bibel finden wir im Matthäus-Evangelium – im Kapitel 5 – folgende Verse (5-10), die auf den ersten Blick sehr unverständlich erscheinen:

5 Freuen dürfen sich alle, die auf Gewalt verzichten - Gott wird ihnen die Erde zum Besitz geben. 6 Freuen dürfen sich alle, die danach hungern und dürsten, dass sich auf der Erde Gottes gerechter Wille durchsetzt - Gott wird ihren Hunger stillen. 7 Freuen dürfen sich alle, die barmherzig sind - Gott wird auch mit ihnen barmherzig sein. 8 Freuen dürfen sich alle, die im Herzen rein sind - sie werden Gott sehen. 9 Freuen dürfen sich alle, die Frieden stiften - Gott wird sie als seine Söhne und Töchter annehmen. 10 Freuen dürfen sich alle, die verfolgt werden, weil sie tun, was Gott will - mit Gott werden sie leben in seiner neuen Welt.

In dem Werk von Allan Kardec: »Das Evangelium im Lichte des Spiritismus« finden wir im Kapitel 5: "Selig sind die Leidenden" zu diesen Versen aus dem Matthäus-Evangelium nachfolgende Erklärungen – gekürzt:     ►     Hier finden Sie die ungekürzte Version:

Gerechtigkeit der Leiden

Die Entschädigungen, die Jesus den Leidenden der Erde verspricht, können nur im zukünftigen Leben stattfinden; ohne die Gewissheit der Zukunft wären diese Leitsätze unsinnig, mehr noch, es wäre ein Köder. Aber selbst mit dieser Gewissheit ist es schwer zu verstehen, dass leiden nützlich sein soll, um glücklich zu sein. Es dient dazu, sagt man, um mehr Verdienst zu erlangen; aber dann fragt man sich, warum die einen mehr leiden als die anderen; warum die einen im Elend geboren werden und die anderen im Überfluss, ohne etwas getan zu haben, um diese Position zu rechtfertigen; warum den einen nichts gelingt, während die anderen in allem Glück zu haben scheinen? Man versteht aber noch weniger, warum Gutes und Leiden so ungleich zwischen Laster und Tugend verteilt sind, zu sehen wie tugendhafte Menschen leiden neben Bösen, die gedeihen. Das Vertrauen in die Zukunft kann trösten und geduldig abwarten lassen, aber es erklärt nicht diese Anomalien, die Gottes Gerechtigkeit zu widersprechen scheinen.

Jedoch, sobald man die Existenz Gottes anerkennt, kann man ihn sich nicht vorstellen, ohne seine unendliche Vollkommenheit; er muss allmächtig, allgerecht und allgütig sein, sonst wäre er nicht Gott. Wenn er höchst gütig und gerecht ist, kann er nicht willkürlich oder parteiisch wirken. „Die Wechselfälle des Lebens haben also eine Ursache, und da Gott gerecht ist, muß diese Ursache ebenfalls gerecht sein.“ Davon sollte jeder voll überzeugt sein. Durch die Belehrungen von Jesus hat Gott die Menschen auf die Spur zu dieser Ursache gebracht, und da er sie heute für fähig erachtet, diese zu verstehen, offenbart er sie ihnen jetzt vollständig durch den Spiritismus, das heißt, durch die „Stimme der Geistwesen“.

Gegenwärtige Ursachen der Leiden

Die Wechselfälle des Lebens sind von zweierlei Art, oder, wenn man will, haben zwei ganz verschiedene Ursprünge, die auseinandergehalten werden müssen: die einen haben ihre Ursache im gegenwärtigen Leben, die anderen außerhalb dieses Lebens.

Suchen wir nach dem Ursprung der irdischen Übel, werden wir feststellen, dass viele die natürliche Folge des Charakters und Verhaltens derer sind, die sie erleiden.

Wie viele Menschen fallen aus eigener Schuld! Wie viele sind Opfer ihres eigenen Mangels an Voraussicht, ihres Stolzes und ihres Ehrgeizes! Wie viele Menschen richten sich zugrunde durch Mangel an Ordnung und Ausdauer, durch lasterhaften Lebenswandel oder weil sie ihre Wünsche nicht mäßigen konnten! Wie viele unglückliche Ehen gibt es, weil sie aufgrund von eigenen Interessen oder Eitelkeit geschlossen wurden und das Herz nicht zählt! Wie viele Zwistigkeiten und verhängnisvolle Auseinandersetzungen hätte man vermeiden können durch mehr Mäßigung und weniger Empfindlichkeit! Wie viele Krankheiten und Leiden sind die Folge von Unmäßigkeit und Exzessen jeglicher Art! Wie viele Eltern sind unglücklich über ihre Kinder, weil sie deren schlechte Tendenzen nicht in ihrem Ursprung bekämpften! Aus Schwäche oder Gleichgültigkeit haben sie in ihnen die Keime von Stolz, Egoismus und dummer Eitelkeit gedeihen lassen, die das Herz verhärten, und später, wenn sie ernten, was sie gesät haben, wundern und grämen sie sich über ihre fehlende Achtung und ihre Undankbarkeit.

Mögen all jene, die im Herzen getroffen werden durch Wechselfälle und Enttäuschungen im Leben, ganz kühl ihr Gewissen befragen, nach und nach zurückgehen zum Ursprung der Leiden, die sie traurig machen, und sie werden erkennen, ob sie nicht meistens sagen können: „Wenn ich dieses oder jenes getan oder nicht getan hätte, wäre ich nicht in einer solchen Lage.“

Bei wem soll man denn die Schuld an all diesem Kummer suchen, wenn nicht bei sich selber? Der Mensch ist auf diese Weise in vielen Fällen der Schmied seines eigenen Unglücks; aber anstatt es anzuerkennen, findet er es einfacher und weniger demütigend für seine Eitelkeit, das Schicksal, die Vorsehung, sein Pech, seinen ungünstigen Stern anzuklagen, wohingegen sein ungünstiger Stern in seiner Fahrlässigkeit liegt.

Die Übel dieser Art bilden sicherlich einen ganz beträchtlichen Teil der Wechselfälle des Lebens; der Mensch wird in der Lage sein, sie zu vermeiden, wenn er an seiner moralischen Besserung genauso arbeitet, wie an seiner intellektuellen Besserung.

Das menschliche Gesetz erreicht gewisse Vergehen und bestraft sie; der Verurteilte kann also sagen, dass er die Folgen seines Handelns zu spüren bekommt; aber das Gesetz erreicht nicht alle Verfehlungen und kann sie auch nicht erreichen; es bestraft vor allem jene, die für die Gesellschaft von Nachteil sind, nicht aber jene, die nur den Tätern selbst schaden. Aber Gott will den Fortschritt all seiner Geschöpfe; deshalb läßt er keine Abweichung vom rechten Wege unbestraft; es gibt nicht eine Verfehlung, und sei sie noch so leicht, keine einzige Verletzung seines Gesetzes, die nicht zwangsläufige und unvermeidbare, mehr oder weniger unangenehme Konsequenzen hat; daraus folgt, dass der Mensch in den kleinen wie in den großen Dingen immer da bestraft wird, wo er gesündigt hat. Die Leiden, als Folge dessen, sind für ihn ein Hinweis, dass er falsch gehandelt hat; sie dienen ihm als Erfahrung, lassen ihn den Unterschied zwischen gut und schlecht empfinden und fordern ihn auf, sich zu bessern, um künftig zu vermeiden, was für ihn Leid verursacht hat, denn sonst hätte er keinen Grund sich zu bessern; auf Straflosigkeit vertrauend würde er seinen Fortschritt verzögern und folglich auch sein zukünftiges Glück.

Aber manchmal kommt die Erfahrung etwas spät; wenn das Leben vergeudet und durcheinander ist, die Kräfte verbraucht sind und es für das Leiden keine Heilmittel mehr gibt, dann fängt der Mensch zu schreien an: „Wenn ich am Anfang meines Lebens gewusst hätte, was ich heute weiß, wie viele falsche Schritte hätte ich vermeiden können! Wenn ich doch noch einmal neu beginnen könnte, würde ich mich ganz anders verhalten, aber es ist keine Zeit mehr!“ So wie der faule Arbeiter sagt: „Ich habe meinen Tagelohn verloren“, sagt auch er: „Ich habe mein Leben verloren“; aber so wie für den Arbeiter die Sonne am nächsten Tage aufgeht und ein neuer Tag beginnt, der es ihm ermöglicht, die verlorene Zeit wieder aufzuholen, wird auch für ihn nach der Nacht des Grabes die Sonne eines neuen Lebens scheinen, in dem er die Erfahrung der Vergangenheit und seine guten Vorsätze für die Zukunft nutzen kann.

Frühere Ursachen der Leiden

Aber wenn es Übel gibt, deren Verursacher der Mensch in diesem Leben ist, so gibt es auch andere, die ihm zumindest scheinbar völlig fremd sind und ihn schicksalhaft zu treffen scheinen. Derart ist zum Beispiel der Verlust geliebter Personen und des Ernährers der Familie; derart sind auch die Unfälle, die durch keine Voraussicht verhindert werden konnten, die Schicksalsschläge, die sämtliche Vorsichtsmaßnahmen vereiteln, die Naturkatastrophen, sowie Gebrechen von Geburt an, vor allem jene, die es den Unglücklichen unmöglich machen, ihren eigenen Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen: Missbildungen, Idiotie, Kretinismus usw.

Jene, die unter solchen Bedingungen geboren werden, haben in diesem Leben bestimmt nichts getan, um ein solches Los zu verdienen: ein trauriges, ohne Ausgleich, das sie nicht vermeiden konnten, das sie von sich aus nicht ändern können und das sie auf Gedeih und Verderb dem Mitleid der Allgemeinheit überlässt. Warum also derart in Ungnade gefallene Menschen, während daneben, unter demselben Dach, in derselben Familie andere in jeder Hinsicht begünstigt sind?

Und schließlich, was kann man da sagen bei diesen Kindern, die in frühem Alter sterben und vom Leben nur Leiden kannten? Das sind Probleme, die bisher keine Philosophie lösen konnte, Anomalien, die keine Religion rechtfertigen konnte und die die Verneinung der Güte, der Gerechtigkeit und der Vorsehung Gottes wären, bei der Hypothese, dass die Seele gleichzeitig mit dem Körper geschaffen würde, und dass ihr Schicksal nach einem Aufenthalt von nur einigen Augenblicken auf der Erde unwiderruflich festgelegt ist. Was haben diese, aus den Händen des Schöpfers hervorgehenden Seelen getan, um so viel Elend auf dieser Welt zu erfahren und in der Zukunft irgendeine Belohnung oder Strafe zu verdienen, wenn sie doch weder Gutes noch Böses getan haben können?

Jedoch Kraft des Grundsatzes: »Jede Wirkung hat eine Ursache«, sind diese Miseren Wirkungen, die eine Ursache haben müssen; und sobald man einen gerechten Gott anerkennt, muss diese Ursache auch gerecht sein. Nun, da die Ursache immer der Wirkung vorausgeht und da sie nicht im gegenwärtigen Leben zu finden ist, muss sie vor diesem Leben liegen, das heißt, zu einer früheren Existenz gehören. Andererseits, da Gott nicht für das Gute bestrafen kann, das man getan hat oder das Böse, das man nicht getan hat, steht fest: wenn wir bestraft werden, dann weil wir Böses getan haben, wenn nicht in diesem Leben, dann in einem anderen. Dies ist eine Alternative, der man sich unmöglich entziehen kann und in der die Logik bestimmt, auf welcher Seite die Gerechtigkeit Gottes liegt.

Der Mensch wird also nicht immer oder völlig in seiner gegenwärtigen Existenz bestraft, aber er entkommt nie den Folgen seiner Verfehlungen. Der Erfolg des bösen Menschen ist nur vorübergehend, und wenn er nicht heute sühnt, wird er morgen sühnen, während der Leidende für seine Vergangenheit sühnt. Das Unglück, das auf den ersten Blick unverdient scheint, hat also seine Existenzberechtigung, und wer leidet, kann immer sagen: „Vergib mir, Herr, denn ich habe gesündigt.“

Die Leiden für vergangene Ursachen sind, wie die für gegenwärtige Fehlverhalten, oft die natürliche Folge begangener Fehler; das heißt, dass durch eine streng austeilende Gerechtigkeit der Mensch die Leiden erfährt, die er anderen zugefügt hat; wenn er hart und unmenschlich gewesen ist, kann er seinerseits mit Härte und Unmenschlichkeit behandelt werden; wenn er stolz gewesen ist, wird er möglicherweise in demütigende Umstände geboren werden; wenn er habsüchtig und egoistisch war und unachtsam mit seinem Vermögen umgegangen ist, kann er um das Nötigste gebracht werden; wenn er ein schlechter Sohn gewesen ist, wird er durch seine eigenen Kinder leiden usw.

So lassen sich durch die Vielzahl der Existenzen und die Bestimmung der Erde als Welt der Sühne die Anomalien in der Verteilung von Glück und Unglück, zwischen Guten und Bösen auf der Erde erklären. Diese Anomalie existiert nur scheinbar, weil man sie nur vom gegenwärtigen Leben aus betrachtet; aber wenn man sich gedanklich erhebt und eine Reihe von Existenzen umfasst, wird man erkennen, dass jedem der Anteil gegeben wird, den er verdient, unbeschadet seines in der geistigen Welt erlangten Verdienstes, und man wird erkennen, dass die Gerechtigkeit Gottes nie aussetzt.

Der Mensch darf nie aus den Augen verlieren, dass er sich auf einer niederen Welt befindet, auf der er nur durch seine Unvollkommenheiten festgehalten wird. Bei jedem Auf und Ab muss er daran denken, dass dies nicht geschehen würde, wenn er einer weiter fortgeschrittenen Welt angehörte, und dass es von ihm abhängt, nicht wieder auf diese Welt zurückzukehren, indem er an seiner Besserung arbeitet.