Aus dem Werk von Allan Kardec:
»Das Evangelium im Lichte des Spiritismus«
Kapitel 5 – Selig sind die Leidenden
- Die Gerechtigkeit der Leiden - Gegenwärtige Ursachen der Leiden - Frühere Ursachen der Leiden -
- Das Vergessen der Vergangenheit - Gründe für Resignation - Suizid und Wahnsinn -
Hinweise und Ratschläge der Geistwesen:
- Richtig oder falsch leiden - Leiden und Heilmittel - Das Glück ist nicht von dieser Welt -
- Verlust geliebter Personen - Vorzeitiger Tod -
Das Vergessen der Vergangenheit
11. Der Einwand, das Vergessen der Vergangenheit würde uns daran hindern, aus der Erfahrung vergangener Existenzen zu profitieren, ist zwecklos. Wenn Gott es für angebracht befunden hat, einen Schleier über die Vergangenheit zu werfen, dann nur, weil es zu unserem Vorteil ist. Die Erinnerung hätte tatsächlich erhebliche Nachteile; in manchen Fällen könnte sie uns tief demütigen oder auch unseren Stolz verstärken und dadurch unseren freien Willen beeinträchtigen; in jedem Falle würde sie uns unweigerlich in unseren sozialen Beziehungen empfindlich stören.
Ein Geist wird oft in derselben Umgebung wiedergeboren, in der er einst lebte. Ebenso knüpft er Beziehungen zu denselben Personen, um das ihnen zugefügte Unrecht wieder gutzumachen. Wenn er in ihnen jene wiedererkennen würde, die er einst hasste, könnte möglicherweise sein Hass wiedererwachen; und in jedem Fall würde er sich im Angesicht derer gedemütigt fühlen, die er einst verletzte.
Gott gab uns zu unserer eigenen Besserung genau das mit auf den Weg, was wir benötigen und was uns genügt: die Stimme des Gewissens und unsere instinktiven Tendenzen; er nimmt von uns, was uns nur schaden würde.
Bei seiner Geburt bringt der Mensch mit, was er sich angeeignet hat; er wird als das geboren, was er aus sich gemacht hat; jede Existenz ist für ihn ein neuer Ausgangspunkt; es ist für ihn nicht so wichtig zu wissen, was er einmal gewesen ist; wird er bestraft, dann weil er Böses getan hat; seine gegenwärtigen schlechten Tendenzen sind das Indiz dafür, was er an sich noch verbessern muss und genau darauf muss er seine ganze Aufmerksamkeit konzentrieren, denn von dem, was er völlig abgelegt hat, bleiben keine Spuren zurück. Die guten Vorsätze, die er gefasst hat, sind die Stimme seines Gewissens, das ihm mitteilt, was gut oder schlecht ist und ihm die Kraft gibt, bösen Verlockungen zu widerstehen.
Außerdem geschieht dieses Vergessen nur während des körperlichen Lebens. Mit seinem Eintritt in das geistige Leben kehrt beim Geistwesen die Erinnerung an seine Vergangenheit zurück: es ist also nur eine vorübergehende Unterbrechung, wie jene im irdischen Leben während des Schlafes, die nicht verhindert, dass man sich am nächsten Morgen daran erinnert, was man am Vorabend und an den vorangegangenen Tagen getan hat.
Genau genommen erlangt ein Geistwesen seine Erinnerung an die Vergangenheit nicht erst nach dem Tode wieder; man kann sagen, dass es sie eigentlich nie verliert, denn Erfahrungen bestätigen, dass ein inkarnierter Geist, während der Körper schläft und er ein gewisses Maß an Freiheit genießt, er sich seiner vergangenen Handlungen bewusst ist; er weiß, warum er leidet und dass es zu Recht geschieht; die Erinnerung an seine Vergangenheit schwindet nur während seines äußerlichen Lebens in Beziehungen. Da er aber keine genaue Erinnerung hat, die für ihn sehr schmerzlich sein könnte und sich eventuell nachteilig auf seine sozialen Beziehungen auswirkt, schöpft er in den Augenblicken, in denen seine Seele frei ist, neue Kräfte, wenn er sie für sich zu nutzen versteht.